Ein weiterer "Bikeromania-Bericht" - diesmal durch die Ostkarpaten (Draculas Heimat).




Eine Radreise im vergangenen Jahr führte mich durch die Südkarpaten. Was liegt da näher als im folgenden Sommer einen anderen Teil dieses Gebirges kennenzulernen! Geplant war die Reise folgendermassen: Zu viert wollten wir mit dem Linienbus Dortmund - Brasov in den rumänischen Südkarpaten anreisen und dort einen rumänischen Radfreund abholen. Von Brasov aus planten wir den Karpatenbogen in den rumänischen Nordosten zur Provinz Moldova und von dort aus zum ukrainisch/rumänischen Grenzübergang Siret zu fahren. In Siret sollte dann ein weiterer Radler zu uns stossen. Unser rumänischer Freund wollte mit einem weiteren Mitglied unserer Reisegruppe mit dem Zug nach Brasov abdrehen, um von dort über den Karpatengürtel zurück nach Brasov zu radeln. Wir verbliebenen vier beabsichtigten durch die ukrainischen Waldkarpaten bis in die Stadt Ushgorod und von dort aus nach Norden zum nächstgelegenen internationalen Grenzübergang nach Polen zu fahren, um von der polnischen Grenzstadt Przemysl mit dem Zug nach Deutschland zurückzukehren.
Wir hatten 70 km Tagesstrecke eingeplant, die Gesamtstrecke sollte 1500 Kilometer betragen, de facto waren es dann am Ende nur 1200 km. Für die gesamte Tour hatten wir mit An- und Abreise drei Wochen Zeit, gute Laune, halbwegs geländegängige Fahrräder, Unmengen von Gepäck und hofften auf gutes Wetter.

Nach 38 Stunden halsbrecherischer Busfahrt, unser rumänischer Fahrer bevorzugte einen gewagten Fahrstil, erreichten wir mit plattgesessenem Hinterteil die transsilvanische Stadt Brasov (Kronstadt) und wurden dort von strömendem Regen und aufdringlichen Strassenkindern empfangen. Zarnesti bei Brasov Aber Wetter ist launisch: Am nächsten Tag erwarteten uns sonnige 20-25°C, der Urlaub konnte beginnen! Wir machten eine Tagestour rund um Brasov und die "Draculaburg" Bran, genossen das Wetter und den Blick auf das Fagarasch-Gebirge, das mit Gipfeln von über 2000 Metern als das höchste der Karpaten gilt. Am nächsten Tag ging es dann mit vollgepackten Rädern und viel Elan Richtung Norden durch welliges Karpatenvorland bis zum Kurort Bad Tusnad zum dortigen Campingplatz. Dort bekamen wir für - den für einen Rumänen horrenenden Preis - von 3 DM pro Nacht und Nase den Luxus einer (theoretisch) heissen Dusche und eines gut funktionierenden Wasserklosetts geboten. Wer will kann auf einem rumänischen Campingplatz auch eine Blockhütte mit zwei Betten darin mieten. Ein Blick in das Hütteninnere lässt einen aber oft von dieser Idee wieder Abstand nehmen. In der Regel zogen wir auf unserer Tour ohnehin das Zelten in "freier Wildbahn" einem Aufenthalt auf einem Campingplatz vor. Das ist nicht nur kostenlos und hat den Vorteil, dass die Tagesroute flexibeler gestaltet werden kann. Man bleibt auch von ohrenbetäubender Discomusik, lautem Gegröhle und ähnlichen Unannehmlichkeiten verschont und muss sich beim Gang auf die Toilette nicht fragen, wie ein Mensch das bewundernswert akrobatische Kunststückchen fertiggebracht hat, seine Aussscheidungen an den absurdesten Stellen zu plazieren.
Bad Tusnad liegt in unmittelbarer Nachbarschaft eines ehemaligen Vulkankraters inmitten eines Naturschutzgebiets und ist berühmt für sein Heilwasser. Der Geschmack dieses Wassers erinnert, wie es sich für ein echtes Heilwasser gehört, an den fauler Eier, soll aber fantastische gesundheitliche Wirkungen erzielen. Von Bad Tusnad aus fuhren wir auf einer recht anständigen Strasse in die Ostkarpaten hinein in das Naturschutzgebiet "Lacul Rosu" (roter See). Nachdem wir den Pass hinaufgekeucht waren, fuhren wir an dem angeblich roten, aber tatsächlich schlammfarbenen See, in dem sich abgestorbene Bäume und eine beträchtliche Anzahl ungarischer und polnischer Touristen spiegelten, vorüber. Dann sausten wir in steilen Serpentinen hinab in eine atemberaubend schöne und sehr enge Schlucht, deren Besuch allein schon die Reise gelohnt hätte. Anschliessend gelangten wir in flachere Gefilde und verbrachten die Nacht bei Verwandten unseres rumänischen Freundes, deren Gastfreundschaft uns reichen Deutschen die Schamröte ins Gesicht trieb.
Von dort aus ging es nach dem Frühstück und einem selbstgebrannten Blaubeerschnaps ("Kein Alkohol, sondern Medizin") leicht schwankend zu einem in den Bergen gelegenen Stausee. Weil die Strasse nicht direkt am Seeufer, sondern über die Bergrücken verläuft, konnten wir den genossenen Alkohol bei dem anstrengenden Auf und Ab schnell wieder ausschwitzen und uns voll und ganz der Aussicht auf türkisfarbenes Wasser und in Nebel gehüllte Berge widmen. Nachdem wir den Stausee hinter uns gelassen hatten, durchquerten wir ein dichtbesiedeltes Bergbaugebiet auf der Suche nach einem geeigneten Zeltplatz. Spätabends wurden wir auf einer Halbinsel in einem breiten Fluss fündig. Dazu mussten wir aber eine an Drahtseilen aufgehangene Holzbrücke überqueren, der einige Holzbohlen und Teile der Aufhängung fehlten, was das ganze Unterfangen zu einer recht wackeligen Angelegenheit machte.
In den folgenden Tagen überquerten wir zahlreiche, nicht sehr hohe Pässe und fuhren durch eine hügelige, waldreiche Landschaft. Wir waren dankbar, dass Pferdefuhrwerke in Rumänien nach wie vor ein wichtiges Verkehrsmittel darstellen, Rushour weil ein Pferd niemals auf die Idee käme, laut hupend in rasantem Tempo dreireihig zu überholen und unbedarfte westliche Radtouristen dabei in schwarze Abgaswolken zu hüllen.
Unser Bestreben verkehrsarme und aussichtsreiche Strassen zu befahren, führte uns auf einen Pass, dessen landschaftlichen Reize wir nur eingeschränkt geniessen konnten. Der Zustand der Strasse, steil und holprig, erforderte Ausdauer und Konzentration. Einige zogen es sogar vor ihr Fahrrad die neun Kilometer bis zur Passhöhe hochzuschieben. Bei der Abfahrt wurden die Felgen der Räder so heiss, dass wir anhalten und sie in einem Bach abkühlen mussten und dies trotz einer maximalen Geschwindigkeit von 15 km/h. All das kostete so viel Zeit, dass wir unser Tagesziel, das moldavische Kloster Voronet, nicht mehr Moldaukloster in Sucevita erreichten und statt dessen auf einem Hügel oberhalb der Stadt Vama übernachteten. In Vama trafen wir am nächsten Morgen zufällig den Mitfahrer mit dem wir uns an der Grenze zur Ukraine verabredet hatten und führten die Reise von nun an zu sechst fort. Wir besuchten drei der berühmten Moldau - Klöster und bewunderten dessen mit farbenfrohen Fresken bemalten Mauern. Am häufigsten sind Darstellungen, auf denen Märtyrer beiderlei Geschlechts die grausamsten Qualen erleiden und christliche Städte belagernde Sarazenen herbe Niederlagen hinnehmen müssen. Das Wetter wurde übrigens immer trüber und gewittriger, Regenschauer inclusive. Regenfahrt in der Ukraine
Unser Abschied in der Grenzstadt Siret fand in Nieselregen und Nebel statt. Unser rumänischer Freund liess es sich nicht nehmen vor den Gefahren zu warnen, die in der Ukraine auf uns lauern sollten: Raub, Diebstahl, Mord und unaussprechliche andere Schrecken. Wir versicherten, dass die Gefahr so hoch nicht sei und wir ausserdem auf uns aufpassen würden, zudem sei man in Deutschland in dem Glauben Rumänien sei ebenso gefährlich. Die Ukrainer halten übrigens ihrerseits die Rumänen für ein Volk von Mördern und Dieben. Und die Polen denken, dass dies auf beide Nachbarstaaten zutrifft . Willkommen in Europa!!!

Hinter dem Grenzübergang warteten dann auch keine marodierenden Räuberbanden auf uns sondern nur unglaubliche Stille. "Unheimlich" meinte ein Mitreisender. Während in Rumänien vorbeikommende Autos laut hupend an uns vorbeizogen, um uns unseren (geringen) Rang in der Strassenhierarchie zu verdeutlichen und lärmende Kinderhorden unsere Fahrräder belagerten, rauschten die wenigen ukrainischen Autos nahezu lautlos an uns vorbei. In den Dörfern war kaum eine Menschenseele zu sehen und sogar die Hunde schienen leiser zu bellen. Die breite, leere, asphaltierte Strasse liess es zu, dass wir zu viert nebeneinander fahren konnten und wir kamen zügig voran. Um vorzugreifen - die Strassen änderten sich gewaltig. Hauptstrasse in der Ukraine
Eine Passstrasse, die in unserer ukrainischen Karte als Strasse oberster Kategorie verzeichnet war, erinnerte an ein ausgewaschenes Flussbett nach einem Erdbeben. Vereinzelte Asphaltfetzen und Leitplankenreste liessen die Annahme zu, dass die Strasse schon bessere Tage gesehen hatte - seitdem können aber gut und gerne 50 Jahre vergangen sein. Wir schoben unsere Drahtesel also den Berg hoch - und wieder hinunter und fluchten lauthals, als sich die vermeintliche Nebenstrasse, die den betreffenden Berg umrandete als gut fahrbare Teerstrasse entpuppte.
Die nächsten zwei Tage blieben die Strassen zu einem grossen Teil schlecht. Schlamm, Schotter mit Gesteinsbrocken unterschiedlicher Grösse und Schlaglöcher stellten den Untergrund dar. Das Ganze hat enorme Vorteile - von Verkehr kann fast nicht gesprochen werden und wir konnten die vielfach idyllische Landschaft geniessen ohne fürchten zu müssen, auf der Strasse Rad und Leben zu lassen, wie das in Deutschland so oft der Fall ist. Die wenigen vorbeikommenden Fahrzeuge verfielen in einen Zick-Zack-Kurs, wenn sie unserer ansichtig wurden und die Fahrer verrenkten ihre Hälse. Ob das am Alkoholpegel der Insassen, an uns oder dem Zustand der Strasse lag, war nicht eindeutig auszumachen. In den Dörfern wurden wir neugierig aber verhalten beäugt. Die häufigste Frage war: "Seid Ihr aus Polen? " - " Aus Deutschland, ach was !" und " Ihr wart in Rumänien - ist es da nicht gefährlich ?"

Da die Ukraine gerade 11 Jahre Unabhängigkeit feierte waren alle grösseren Orte in den Nationalfarben geflaggt, Menschen in Festtagskleidung promenierten auf der Strasse entlang und riesige Schilder, verkündeten nationalistische Durchhalteparolen aller Art, von denen die Aufforderung die Ukraine zu lieben, noch eine der bescheidensten ist. Den höchsten Berg der Ukraine zu erklimmen, ersparten wir uns nicht nur aus Zeitmangel, sondern auch nach dem Blick auf die Zufahrtsstrasse, die nach mehreren Regenfällen zu einem kleinen Bach angeschwollen war. in den ukrainischen Karpaten
Statt dessen besuchten wir den "geografischen Mittelpunkt Europas". Bei dem Dorf Delovoje gelegen sind hier einige entsprechende Hinweistafeln zu finden. Ein Ort in Litauen rühmt sich übrigens ebenfalls, der Mittelpunkt Europas zu sein, vermutlich ist das Ansichtssache.
Nach einigen Tagen erreichten wir Ushgorod über ein Stück "Europaautobahn", die sogar auf der Länge von 10 Kilometern über einen ausgeschilderten Fahrradweg verfügt. Diese Autobahn ähnelt einer deutschen Bundesstrasse mit wenig Verkehr und kann problemlos mit dem Rad befahren werden. Ushgorod liegt am Dreiländereck Ukraine, Rumänien, Slowakei und Polen ist auch nicht weit. Diese Lage brachte eine bewegte Geschichte mit unterschiedlichen Regierungen mit sich, die aber kamen und gingen und an die heute nur noch Baustile, Burgen und Gotteshäuser unterschiedlicher Religionen erinnern. Nach einem Tag Aufenthalt planten wir von hier aus mit dem Zug Richtung Norden zu fahren, um von dort die letzten 70 Kilometer bis zu dem internationalen Grenzübergang in einem Tag zurücklegen zu können. Schlechte Strassen und anhaltender Durchfall bei einem Mitglied unserer Gruppe, hatten den Zeitplan eng werden lassen und es war zu befürchten, dass wir unseren Zug von Polen nach Deutschland nicht rechtzeitig erreichen würden. Nun ist Zug fahren mit dem Fahrrad so eine Sache.
Ein früherer fruchtloser Versuch, ein Teilstück mit dem Zug anstatt mit dem Fahrrad zu überbrücken, hatte uns gelehrt, dass Zug und Fahrrad zumindest dann unvereinbar sind, wenn die Angestellte an der Fahrscheinkasse der Ansicht ist, wir schleppten einfach zuviel Gepäck mit uns herum und sich deshalb weigert uns Fahrkarten zu verkaufen. Wir stellten unsere Räder ausser Sichtweite und - Wunder über Wunder - erhielten problemlos die gewünschten Fahrkarten für uns und die Fahrräder und zwar für den Nachtzug. Beim Besteigen des Zuges wurde uns klar, dass die Abwicklung des Fahrkartenkaufs doch verdächtig glatt gegangen war, der dicke Hund musste also noch kommen. Und der liess nicht lange auf sich warten. Der Schaffner fand nämlich ebenfalls, dass wir zuviel Gepäck hätten und für dieses eigene Fahrkarten bräuchten. Er brüllte mir seine Forderungen in voller Lautstärke und mit alkoholumhüllten Atem solange ins Ohr, bis wir uns auf einen Preis für diese Gepäckkarten geeinigt hatten, der für beide Seiten akzeptabel war. Als wir mitsamt Gepäck und Rädern unsere Plätze einnehmen wollten, mussten wir feststellen, dass unser Waggon bereits aus allen Nähten barst: überall sassen und lagen Menschen und Berge von Gemüse und Obst. Sogar auf der Toilette lagerten riesige Säcke mit Paprika und machten diese unbenutzbar. Zwischen den rollenden Gemüsemarkt gequetscht, einen Turm Fahrräder zwischen uns und eingekeilt inmitten unseres Gepäcks und Kürben voller Eier und Weintrauben, brach eine schlaflose, ungemütliche Nacht an. Die Landschaft die an uns vorbeizog, sah im Vollmondlicht vermutlich sehr reizvoll aus, hätten nicht mehrere Lagen klebrigen Drecks die Scheiben nahezu undurchsichtig werden lassen. Die Gemüsebauern hatten unerfreulicherweise den gleichen Zielort wie wir, aber dank gegenseitiger Hilfe schafften es alle rechtzeitig den Zug zu verlassen, bevor dieser wieder weiterfuhr. Als wir an diesem Nachmittag die Grenze nach Polen überschritten, erlitten wir einen Kulturschock: die Strassen waren einwandfrei, der Verkehr dicht, die Autos ne../u und westlich. Bunte Reklametafeln beleidigten das Auge und alles sah wesentlich wohlhabender aus, als auf der anderen Seite der Grenze. Wir wähnten uns wieder "im Westen". Dass die meisten Deutschen die nach Polen reisen das ganz anders sehen, war uns egal, - denn wir kamen gerade von der Mitte Europas.



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